Die zweite Hälfte des letzten Schuljahres war ein riesiges (Zwangs)experiment. Die Probanden waren unsere Schülerinnen und Schüler. Und wie so häufig laufen große Teile eines Experiments, insbesondere eines schlecht vorbereiteten, nicht so, dass man sagt: „Ja cool, das ist doch mal echt gut gelungen.“ Und man wäre ein schlechter Wissenschaftler, würde man die Fehler in erster Linie bei den Probanden suchen.
Aktuell kann man aber den Eindruck gewinnen, einige Schulen und Lehrkräfte würden genau das tun: Den kleinen Hasen in den Käfigen zureden, sie sollen sich gefälligst anstrengen und bei der nächsten Dosis des experimentellen Medikaments nicht gar so schnell versterben. Nur um dann die doppelte Menge aufzuziehen.
Na klar, der Vergleich hinkt. Auch wir Lehrerinnen und Lehrer haben uns Corona nicht gewünscht. Und auch für uns ist vieles so neu, dass wir Fehler machen. Aber wir sind die Experten beim Thema Lernen. Und wir sind die Experten, wenn es um Pädagogik geht. In der Realität hört sich das aktuell dann oft so an:
- Schulleitung: „Machen Sie möglichst schnell viele Noten, damit wir was in der Hand haben, wenn es wieder Schulschließungen geben sollte!“
- LehrerInnen: „Das ist für alle schwierig, da müsst ihr jetzt halt mal die Zähne zusammenbeißen!“
Bei den Kindern kommt im Wesentlichen an: „Ja, Pech, ist jetzt euer Problem. ICH kann nicht für euch lernen!“ Eine solche friss-oder-stirb-Mentalität halte ich für hochgradig gefährlich. Wir öffnen die Schere zwischen den Wenigen, die bereit und fähig sind, diesen Irrsinn mitzugehen und dem großen Rest, noch weiter. Wir verstärken Ungleichheiten, die unser Schulsystem schon ohne Corona massiv produziert. Wir kapitulieren vor der pädagogischen Aufgabe und betrachten es als eine reine Frage der Organisation: Hier noch ein zusätzlicher Test, da 30 Vokabeln extra und was nicht passt, wird passend gemacht. Einfach ein Stündchen mehr Hausaufgaben, was soll‘s? Das sollen dann die Eltern mit ihren Kindern regeln und wer‘s nicht hat, bekommt nen Strich.
Es kann doch nicht sein, dass wir so vor dieser Situation kapitulieren? Unsere Schülerinnen und Schüler müssen doch von uns erwarten dürfen, dass:
- wir auf das Wohl des Individuums bedacht sind.
- wir es in erster Linie als unsere Aufgabe ansehen, diese komplexe Situation zu bewältigen.
- wir wahrnehmen, dass es neben des Defizits beim Wissenserwerb auch zu einem zwischenmenschlichen Vakuum gekommen ist.
Die Realität ist an vielen Stellen eine andere: Massiver Druck in Form überbordender Aufgaben, ohne Ende Tests und Klassenarbeiten. Schnell viele Noten produzieren. Als sei eine Schule ein Unternehmen, dessen Wert sich am Notenoutput der Lernenden bemisst. Ich habe lange Zeit geglaubt, Notendruck entstehe in der Hauptsache im Elternhaus und in der Peergroup. Die Pandemie hat mich eines Besseren belehrt. Ich habe Kolleginnen und Kollegen erlebt, die sich fast panisch gezeigt haben, ob des Umstandes im zweiten Halbjahr keine Noten machen zu könne! Die Vorgaben der Schulleitung und des Ministeriums wurden viele Male übergangen. In Videokonferenzen wurden Leistungen bewertet, durch die Hintertür wurden Klassenarbeiten durchgeführt. Nachdem man sich damit arangiert hatte und akzeptieren musste, dass es im Schuljahr 2019/2020 keine Nichtversetzungen geben wird, hat man den Eindruck, bei einigen Kolleginnen und Kollegen löst sich nun angestauter Zensurendruck.
Natürlich spielen hier auch Ängste mit: Was passiert, wenn es wieder zu Schulschließungen kommt? Allerdings darf man schon die Frage stellen, ob es für die Schülerinnen und Schüler dann in erster Linie wichtig ist, dass man schon genügend Noten erteilt hat. Oder ob sowohl in einer solchen Situation, als auch in der aktuell bestehenden, nicht andere Dinge wichtig wären. Wenn wir nämlich in 10 Jahren feststellen, dass die Gruppe der Zwanzig- bis Dreißigjährigen vielleicht doch langfristige Nachteile aus der Pandemiezeit mitgenommen hat, dann sagen wir sicher nicht: „Ja, die Generation Corona – Die haben einfach zu wenig Noten bekommen und jetzt haben wir den Salat!“. Ganz sicher werden wir uns dann aber der Frage stellen müssen, ob wir in den Schulen alles getan haben um die Jugendlichen durch diese Zeit zu begleiten. Ob wir anerkannt haben, dass diese Situation für in Mitteleuropa aufwachsende Kinder und Jugendliche eine existenzielle Krise darstellen kann, die man, nach dem Ende des kalten Krieges und der Wiedervereinigung, so wohl nicht für möglich gehalten hat. Ich bin weit davon entfernt, von einer „verlorenen Generation“ zu sprechen, wie es manche Kommentatoren getan haben. Das halte ich in Bezug auf Kinder und Jugendliche, die auch heute mit Kriegshandlungen konfrontiert werden schlicht für unangemessen. Allerdings ist eben auch die relative „Fallhöhe“ zu bedenken.
Und so bleibt die Aufgabe in meinen Augen eine pädagogische. Und das Wort der Stunde muss Empathie sein. Und nicht Excel.
Titelbild: Photo by Thomas Park on Unsplash